Hannover/Egestorf. Heute ist Tag 2 im Revisionsprozess zu dem tödlichen Unfall am Kirchdorfer Rehr. Die Angeklagten Ewa P. (41) und Marco S. (41) hatten mehrjährige Freiheitsstrafen erhalten und genau wie die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt. Bei dem Unfall am 25. Februar 2022 starben zwei kleine Kinder (2, 6) – die Mordanklage der Staatsanwaltschaft bestätigte das Landgericht damals nicht. Der Bundesgerichtshof in Karlsruhe hatte das Urteil dann teilweise aufgehoben, nun geht es wieder vor das Landgericht Hannover - allerdings vor eine andere Kammer..
Wie geht es heute und danach weiter?
Nachdem gestern beide Angeklagten im Grunde die Vorwürfe eines KfZ-Rennens und ihre Schuld daran eingeräumt haben und das Gericht den rechtlichen Hinweis gegeben hat, dass sie wegen Mordes verurteilt werden könnten, kommen heute die Gutachter und Psychologen zu Wort. Die Vorsitzende Richterin Britta Schlingmann brachte es gestern auch auf den Punkt: Was geschehen sei, habe das Landgericht bereits im April 2023 festgestellt und der Bundesgerichtshof diese Sachverhalte nicht zur Revision zugelassen - es sind damit Fakten geworden. Es ginge nun nur noch um die Frage: "Was ging subjektiv in den Köpfen der Angeklagten vor und welche Erkenntnisse ergeben sich damit für das Urteil?" Aus diesem Grund sind die Gutachter noch einmal eingeladen, um über die Psyche der beiden Angeklagten zu referieren. Im Anschluss sollen dann bereits die Verteidiger und die Staatsanwaltschaft ihre Plädoyers halten. Das Urteil will Richterin Schlingmann dann am Mittwoch, 24. Juli, fällen.
Autos mit maximal 250 km/h
Die Angeklagte P., die derzeit in der Justizvollzugsanstalt Vechta und nicht mehr in Barsinghausen wohnhaft ist, wurde im Vorfeld in Bezug auf das Lenken von Fahrzeugen als "riskant" und "auffällig" bezeichnet. Sie habe auf relativ kurzen Strecken unverhältnismäßig stark beschleunigt, habe eine Schwäche zum sicheren Führen eines Fahrzeugs, wurde ihr attestiert. Beim Unfall hatte ihr Audi A6 rund 25.000 Kilometer gefahren, 185 kW bei 1,9 Litern erreichten laut Gericht eine Maximalgeschwindigkeit von 250 km/h. Ähnliche Werte konnte auch der Cupra Formentor von Marco S. aufweisen: während dieser als Dienstwagen zur Verfügung gestellt PKW erst rund 2.800 Kilometer zurückgelegt hatte, verfügte er über 228 kW bei 1,9 Litern und ebenfalls einer Spitzengeschwindigkeit von 250 km/h.
Mit 180 und 165 km/h im Blindflug über die Kuppe und in die Kurve
Beide Angeklagten waren am Tattag aus Wennigsen gestartet - sie arbeiteten nur etwa 350 Meter voneinander entfernt und befuhren "teilweise im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang" die Strecke zum Kirchdorfer Rehr. Auch Marco S. wohnte zum Tatzeitpunkt - und nach gestriger Angabe vor Gericht auch nach wie vor - in einem Ortsteil von Barsinghausen. Beide Angeklagten hatten nach dem Unfall keine Spuren von Drogen oder Alkohol im Blut. Darauf wies das Gericht hin. Bei der ersten Kollision hatte der Audi eine Geschwindigkeit von 180 km/h auf dem Tacho, der Cupra 165km/h. Während Ewa P. immer noch auf der linken Fahrbahn und damit im Gegenverkehr verunfallte, vollzog Marco S. eine Vollbremsung und kam nach 165 Metern zum Stillstand. Wie in dem gestern ausgestrahlten Dash-Cam-Video des letzten Unfallfahrzeugs zu erkennen war, stieg der Angeklagte S. nach einigen Sekunden aus seinem Fahrzeug aus, ging in Richtung der Unfallstelle, dann zurück zu seinem Auto und dann - nach kurzem Innehalten ging er wieder zu den Unfallfahrzeugen. Eine Tonspur wurde nicht übertragen. Der letzte beteiligte Fahrer stieg aus seinem Fahrzeug aus und öffnete mit viel Kraft die deformierte Tür des A6 der Ewa P.. Diese war ansprechbar: "Was ist passiert? Was habe ich getan?", waren ihre ersten Reaktionen.
"Was habe ich getan?"
Dann sah sie nach eigenen Angaben des bereits toten Zweijährigen, ihm wurde bei dem Unfall unter anderem die untere Hohlvene abgerissen und Wirbelsäule wie Rückenmark durchtrennt. Der Nissan der Familie wurde frontal von der Beifahrersete des rotierenden A6 getroffen und entgegen seiner Fahrtrichtung durch die Luft auf einen angrenzenden Acker katapultiert. Entsprechend heftig waren die physikalischen Kräfte, die auf Insassen und Fahrzeug einwirkten. Die Richterin betonte, dass beide Kinder jeweils in einem alters- und größengerechten Kindersitz angeschnallt waren. Bei fast 180 km/h gegen 70 km/h schützte das die beiden Kinder nicht. Der 6-jährige Bruder verstarb etwas später in einem Krankenhaus, ihm war eine Hauptarterie abgerissen, ein Hirntrauma wurde bei der Obduktion festgestellt, auch der gesamte Halteapparat war abgerissen.
Wie glaubhaft ist Ewa P.?
Der Schock währte aber offenbar nicht allzu lange. Im Juni kaufte sich Ewa P. einen neuen PS-starken Volkswagen - obgleich ihr und auch dem Mitangeklagten Marco S. noch am Tag des Rennens der Führerschein abgenommen worden war, was später ein Amtsrichter auch beschloss und bis heute andauert. Aber der Besitz reichte nicht, mindestens zweimal wurde Ewa P. beim Fahren ihne Führerschein gesehen. Die Einlassung der Ewa P. durch ihre Anwältinnen und auch die persönliche Erklärung sorgten im Gerichtssaal nach dieser Kenntnis für Erstaunen: "Es tut mir unendlich leid, ich habe suizidale Gedanken, ich muss diese Verantwortung tragen". Gleichzeitig erklärte sie, ihre Tochter habe sie gebeten, schnell nach Hause zu kommen - da habe sie wie so oft Autos überholt. Nur der Angeklagte Marco S. habe sich nicht überholen und sie nicht einscheren lassen. "Dann traf ich die falsche Entscheidung: Gas statt Bremse", räumt Ewa P. ein. Sie sah den Gegenverkehr auf sich zukommen, konnte dem ersten Fahrzeug noch ausweichen und fühlte sich sicher: "Ich habe weiter beschleunigt und wusste, dass das Fahrzeug von mir beherrschbar und kontrollierbar war, schließlich habe ich das schon oft getan." Dann kollidierte sie mit dem zweiten Wagen, der Audi kam in Rotation, krachte in das nächste Auto, geriet in eine Gegenrotation und knallte schließlich erst mit der Beifahrerseite in den frontal darauf zufahrenden Nissan der Familie und dann noch gegen einen weiteren Wagen. "Ich hatte vor, den Unfall zu verhindern", ließ P. erklären. Als sie im Krankenhaus das volle Bild ihrer Tat aufgezeigt bekam, habe sie gedacht: "Ich wollte lieber sterben als weiter zu leben".
30.000 Euro für zwei Kinderleben? Der Vater hat dazu eine klare Meinung.
Marco S. ließ durch seine Anwälte erklären, es sei nicht leicht für ihn, sich erneut der Verantwortung zu stellen. Er trage eine Mitschuld am Tod der Kinder, was er nie wollte: "Ich habe ein Rennen veranstaltet, das Landgerichtsurteil ist vollkommen korrekt". Der Familie habe er 30.000 Euro als monetäre Wiedergutmachung angeboten: "Ich weiß, dass das Geld die Kinder nicht zurückbringt", betonte er und wollte sichergehen, dass die Eltern das Angebot nicht als Unverschämtheit empfänden. Die Zeite heile hoffentlich alle Wunden, erhofft sich der ebenfalls zweifache Familienvater. Er bedauere, dass er sich von P. zu dem Rennen haben anstiften und provozieren lassen. Klare Worte fand der Vater der beiden Kinder auf das Angebot: "Geld ist nichts wert, ich will nur Gerechtigkeit. Ich kann nicht mehr weinen, ich bin total weg. Meine Frau ist immer noch krank, wir leiden jeden Tag." Bevor das Video von dem Schicksals-Tag noch einmal abgespielt wurde, verließ die Mutter den Gerichtssaal. Schon einmal hatte sie in der Hauptverhandlung das Video gesehen. Einige Zuschauer wussten nicht, was sie sehen würden - das Erschrecken bei der Kollision durchbrach die Stille, die davor und danach im Schwurgerichtssaal herrschte.
Was ist zu erwarten?
Zweifacher Mord, sechsfacher versuchter Mord, dreifache gefährliche Körperverletzung und ein KfZ-Rennen mit Todesfolge - das könnte am Ende die Bilanz und das Urteil des Schwurgerichts am Mittwoch sein. Darauf stellte die Richterin die Angeklagten bereits gestern ein. Dabei betonte sie gleich zwei Mordmerkmale: Die Heimtücke, mit der die arglosen Menschen in den Fahrzeugen teils schwer verletzt und sogar getötet wurden. Und die niederen Beweggründe, sich nicht die Blöße zu geben, das Rennen verloren zu haben. Die Aussagen der Ärzte am heutigen Freitag werden nicht unwichtig für die Abwägung des Gereichts sein. Genau wie die Äußerungen des Vaters der beiden Kinder am gestrigen Donnerstag. Er habe seine Nasenfraktur, die ihn beim Atmen und Schlafen störe, noch nicht korrigieren lassen, weil es seiner Frau noch immer zu schlecht gehe. Aber in 2025 wolle er sich helfen lassen. Seine Frau sei aber ohnehin schlimmer getroffen. Sie hatte in der Folge des Unfalls unter anderem eine Ruptur des Darms davongetragen, habe noch immer Wasser im Bauch und Platten im Arm sowie eine weitere Operation an der Schulter gehabt. Sie habe außerdem Schilddrüsen- und Atemprobleme. Ihre psychischen Probleme kann sie noch niemandem anvertrauen: "Sie meint, sie muss sich selber heilen", wirkte der sonst sehr entschlossen auftretende Ehemann hilflos. Seine Frau wollte eigentlich im Sommer 2022 deutsch lernen, wenn der kleine Sohn dann groß genug gewesen wäre. Bis heute ist es durch den Unfall nicht dazu gekommen: "Sie hat den Kopf nicht frei dafür, sie weint immer viel, ich versuche sie abzulenken. Manchmal gelingt mir das", berichtet der Taxifahrer, der bereits wieder in seinem Job arbeitet.