Barsinghausen/Hannover. Heute beginnt der fünfte Prozesstag zum Unfall am Kirchdorfer Rehr. Es soll eine weitere Zeugin gehört werden und das Gericht will sich weiterhin ein genaueres Bild vom Unfall machen. Die beiden Angeklagten haben ihre weitere Unterstützung angekündigt. Am gestrigen Prozesstag hatte am Nachmittag noch ein Gutachter interessante, wenn auch erschütternde, Details zum Unfallhergang und den Sekunden kurz vor der Kollision bekannt gegeben. Auch das Dashcam-Video wurde öffentlich gesichtet. .
Zu sehen ist auf der Kameraaufnahme die Fahrt über die Röntgenstraße, der PKW biegt auf den Kirchdorfer Kreisel ein. „Hier sehen wir die späteren Unfallbeteiligten, auch den Nissan der Familie“, erklärt Unfallanalytiker Clemens Rehse, der das Gutachten zum Unfall verfasst hat. Die Aufnahmen stammen aus dem PKW eines Unfallbeteiligten aus Barsinghausen. Die Fahrzeuge reihen sich ein und fahren unwissend auf den Kirchdorfer Rehr. Im Gerichtssaal wissen alle Anwesenden, was kommen wird. Die Mutter der beiden verstorbenen Kinder hat den Saal bereits verlassen. Einige Pfützen sind am Straßenrand zu erkennen, die Sonne scheint über dem Deister. Der Himmel ist blau, stellenweise bewölkt. Die Fahrzeuge fahren in einer Reihe hintereinander her, bis die Kuppe in der Kurve fast erreicht ist. Dann schießt wie aus dem Nichts der blaue Audi ins Bild, kollidiert schleudernd innerhalb von Sekunden mit einem Fahrzeug und schleudert den Familien-PKW entgegen seiner eigentlichen Fahrtrichtung zurück. Er fliegt aus dem Bild auf die Pferdekoppel, dann wird auch der PKW mit der Dashcam getroffen und kommt am Straßenrand zum Stehen. Später wird der Gutachter sagen, dass bei der hohen Geschwindigkeit des Audis ein Unfall unausweichlich war. Er hat weitere Details.
Bis in die Kurve am Anschlag
Schon die Arbeitskollegen, die als Zeugen am Vormittag aussagten, beschrieben die Angeklagte E.P. als „Bleifuß“ und als „Schumi“. Auch der Gutachter wird noch einen Vergleich zu Rennfahrer Michael Schumacher ziehen. Lange führt er in seine Arbeitsweise ein. Er erklärt, wie er sich die Unfallfahrzeuge ansah, das Video Bild für Bild auswertete und die Technik des Audis ausgelesen hat. Er fuhr die Strecke persönlich mehrmals ab und begutachtete noch am Unfallort Markierungen der Polizei und ging die Schlagmale ab. Dies seien die Stellen, an denen im Asphalt zu erkennen sei, wo die Fahrzeuge kollidierten, da sich das Metall in den Beton gedrückt hat. Beim Audi der Angeklagten E.P. konnte er die Daten der Airbag-Steuerung auslesen. Diese zeichne Fahrzeugdaten auf und speichere die Sekunden vor dem Auslösen. „Es gibt eine gewisse Toleranz, die Daten sagen aber, dass der Airbag bei einer PKW-Geschwindigkeit von 186 km/h auslöste“, so Rehse. Für weitere Berechnungen habe er mit einem Wert von 180 km/h gerechnet, um Toleranzen zu berücksichtigen und im Sinne der Unschuldsvermutung abzurunden.
Er nahm Tests mit einem Audi Vergleichsfahrzeug vor. Der Audi A6 55 Tfsi e von E.P. habe 180 kW (245 PS) gehabt, der Cupra Formentor 228 kW (310 PS), erklärt der Gutachter. Beide riegelten bei 250 km/h ab. Aus dem kollisionsfreien Cupra waren keine Daten auslesbar, dies sei vom Werk so eingestellt. Rehse beschrieb, wie er mit dem Audi A6 55 Tfsi e Vergleichsfahrzeug von 70 auf 180 km/h beschleunigte. Etwa zwölf Sekunden dauerte dies. Eine Zeit, in der die Angeklagten weiter beschleunigten und keiner nachgab. „Anhand des Videos bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass Audi und Cupra in der Kurve die gleiche Geschwindigkeit hatten.“ Dies machte er daran fest, dass bei Betrachtung der einzelnen Bilder beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe blieben. „Aufgrund der Motorisierung beider PKW muss auch der Beschleunigungsweg ähnlich sein.“ Die elektronische Auswertung der Lenkung des Audis zeige eine gleichmäßige Fahrweise. „In den letzten fünf Sekunden der Datenspeicherung ist zu erkennen, dass die Geschwindigkeit zunächst bei 173 km/h lag und weiter auf 186 km/h beschleunigt wurde“, gibt der Unfallanalytiker die trockenen, aber erschütternden Daten weiter. „Laut Auswertung war das Gaspedal zu 100 Prozent durchgedrückt.“
Der Gutachter konnte nicht rekonstruieren, ob auf der gesamten Strecke mal beschleunigt wurde, oder nicht. Er hat nur die Daten der letzten Sekunden. Die „Fischaugen-Optik“ der Dashcam und die Tatsache, dass auch die Dashcam in Bewegung war, machten weitere Auswertungen schwierig. Abstände zwischen den Fahrzeugen könne er daher nicht seriös darlegen.
Auch der Gutachter bringt Schumacher ins Spiel
„Wenn man hätte bremsen wollen“, wollte der Richter wissen, „wie lange wäre der Bremsweg bei der Geschwindigkeit gewesen?“ Bei einer Geschwindigkeit von 170 bis 180 km/h etwa 170 Meter bei Vollbremsung, so der Gutachter. Die Sichtweite während des Überholvorgangs gab er mit 160 Metern an. Den Kirchdorfer Rehr beschreibt auch er als unübersichtlich: „Bei der Geschwindigkeit wären selbst 350 Meter Sichtweite optimistisch für einen Überholvorgang.“ Ob man die Kurve mit 180 km/h überhaupt sicher hätte durchfahren können, wollte der Richter wissen: „Michael Schumacher mit seinem Rennwagen und warmen Reifen sicherlich, ansonsten dürfte es schon für geübte Fahrer schwierig werden“, antwortete Rehse.
Die Geschwindigkeiten gehen weit über die Aussagen der Angeklagten hinaus. M.S. hatte noch am Vormittag seine Geschwindigkeit mit 110 bis 120 km/h angegeben.
Der Gutachter fuhr auch die Strecke von der Osterstraße, wo eine Augenzeugin beide Angeklagte vor dem Unfall gesehen haben will, in Richtung Unfallort ab. Einmal innerorts über die Stoppstraße und vom Egestorfer Kreisel zum Unfallort, aber auch über die Hannoversche Straße und Röntgenstraße. Beides sei innerhalb weniger Minuten und auch mit den genannten Uhrzeiten möglich.
Die Eltern der beiden verstorbenen Kinder (2 und 6 Jahre) haben, soweit sie es beeinflussen konnten, nach Aussage des Gutachters alles richtig gemacht: „Die Kindersitze habe ich mir auch angeschaut. Diese waren dem Alter und der Körpergröße entsprechend“, gab der Analytiker an. Schon der Pathologe hatte am Vormittag ausgesagt, dass die Kinder korrekt angeschnallt waren. Entsprechende Gurtmarken belegten das. Ob der Unfall vor der Kurve noch hätte verhindert werden können, fragte der Richter den Experten. Nein, denn es wurde bis zuletzt Vollgas gegeben, nur die moderne Sicherheitstechnik der beteiligten Fahrzeuge verhinderte schlimmeres: „So ein Unfall vor zehn bis 15 Jahren - und es wären heute weniger Leute hier im Gerichtssaal“, so der Gutachter abschließend.
Die Verteidigung wird nun noch ihre eigenen Sachverständigen zu dem Gutachten befragen. Das Gericht wird am Ende entscheiden müssen, ob es ein tragischer Unfall nach einem missglückten Überholvorgang, oder doch ein vermeidbares Kraftfahrzeugrennen war. Die Staatsanwaltschaft hat die beiden Unfallverursacher wegen Mordes und Beihilfe zum Mord angeklagt.
Die Ereignisse des heutigen fünften Prozesstages sind im Tagesverlauf bei Con-nect.de zu lesen.