Barsinghausen/Hannover. Am gestrigen sechsten Prozesstag zum Unfall Kirchdorfer Rehr, sagten neben zwei Zeugen auch zwei psychologische Gutachter aus. Sie stellten ihr Gutachten zur Angeklagten E.P. vor und versuchten, ihren Charakter einzuordnen - was sich als schwierig herausstellte. Die Verteidigung von E.P. kritisierte die Ergebnisse des Gutachtens. Die Verteidigung von M.S. kritisierte nachträglich das Unfallgutachten.
Beide psychologischen Gutachter hatten getrennt voneinander mit der Angeklagten E. P. gesprochen. Ein Dolmetscher übersetzte die Fragen. Dr. Susanne Cordes-Welzel (64) und Dr. Dr. Felix Wedegärtner (50) gingen zunächst auf die Vergangenheit der Angeklagten ein. „Sie nahm die Situation im Gespräch ernst und war freundlich, jedoch wirkten ihre Antworten auch oberflächlich und spontan - stets darauf bedacht, sich gut darzustellen. Sie war zurückhaltend, was Informationen über ihren Mann und ihre Kinder anging“, führte Cordes-Welzel ein.
Die „Verbrannte“
P. sei in Polen aufgewachsen, war das fünfte Kind und hat eine Zwillingsschwester. Sie beschrieb ihre Kindheit als gut. Bei einem Unfall als Kind verletzte sie sich mit kochendem Wasser. Die Narben am Hals habe sie später mit Tattoos überdeckt. Sie sei als die „Verbrannte“ gehänselt worden. Nachdem sie in Polen gearbeitet habe, sei sie zur Weinlese nach Spanien und habe dort 2004 ihren Mann kennengelernt. Es folgten die Geburten ihrer drei Kinder und auch die Hochzeit 2008. Ab 2005 arbeitete sie in der Abfallverwertung in Polen, bis die Familie 2013 nach Deutschland zog. „Dann wird es irgendwie diffus“, befand Wedegärtner. „Der Mann war immer mal wieder im Gefängnis. P. arbeitete zunächst in einem Laden, dann in dem Betrieb in Wennigsen. Zog von Hannover nach Barsinghausen. Sie gab an, dass sie keinen Alkohol trinke. Ich erfuhr später durch die Akten, dass sie 2015 die Fahrerlaubnis verlor, da sie betrunken gefahren ist.“ Vieles habe P. nur oberflächlich und kurz beantwortet, offenbarte wenig Inhalte. Den Gutachtern fielen Widersprüche auf. So beschrieb sie ihr Familienleben als glücklich, jedoch war der Mann im Gefängnis. Die Zeugen vom sechsten Prozesstag berichteten von Ärger mit den Kindern und mit dem Jugendamt. Es blieb auch unklar, woher die Autos und das Geld stammten. „Nichts konnte überprüft werden“, so die Gutachter. „Es gab oberflächliche Antworten, welche gezielten Nachfragen nicht standhielten. Es wirkte willkürlich, ohne abschließende Erklärungen.“ P. scheine „ihre“ Wahrheit zu haben, ohne das erkennbar sei, dass sie diese Meinung mit vor ihr liegenden Fakten abgleiche. Dazu gehöre auch ihre Aussage, dass sie hinter dem Cupra eingeschert sei, obwohl alle Zeugen und Gutachter das Gegenteil belegten und sie die Akten zuhause einsehen konnte.
Tote Kinder bei einem Unfall? „Kann passieren“
Auch zum Unfall äußerte sich die Angeklagte wenig. Erklärte nur, dass sie Überstunden gemacht habe, ihre Tochter anrief und sie schnell nach Hause wollte, um das Mittagessen zu machen. „Auf Nachfragen, warum genau an diesem Tag zwei Überstunden nötig waren, gab es keine Erklärung. Auch, warum sie so schnell nach Hause musste, um einer 17-Jährigen um Punkt 16.25 Uhr Essen zu machen. Sie beschrieb es, als seien dies alles unumstößliche Naturgesetze, erklärte es jedoch nicht“, so Wedegärtner.
Die 64-jährige Gutachterin berichtete von einstudiert wirkenden Antworten und dem Bestreben, sich gut darzustellen. Der Richter merkte an, dass es klar sei, dass man sich bei einem Mordvorwurf selbst schützen wolle: „Es muss nichts über den Charakter eines Menschen aussagen.“ Cordes-Welzel erklärte weiter, dass P. dazu neige, Verantwortung abzugeben. Sie habe beim Überholen und vor der Kurve nicht gebremst, da ihr Mann ihr verboten habe in einer Kurve zu bremsen – das sei zu gefährlich. Der Cupra habe beschleunigt und sie konnte nicht vorbei. Oder: Ihr Anwalt habe ihr nicht gesagt, dass sie nach der Alkoholfahrt nicht mehr Auto fahren dürfe. Strafzettel gingen zur Zwillingsschwester nach Polen. Sie sprach auch mit ihren Kindern über den Unfall, diese versuchten sie zu beruhigen, da es nur ein Unfall gewesen sei. Sie bedauerte den Tod der beiden Kinder gegenüber der Gutachterin und erklärte, dass sie selbst nicht mehr leben wollte. Später sagte sie der Gutachterin aber auch, als diese noch einmal nach den verstorbenen Kindern fragte: „Kann passieren.“
Laut der Verteidigung liegt diese Haltung an der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS). P. habe ihrer Psychologin von den Symptomen berichtet. Ein Verhalten, um sich ihr Handeln zu erklären und sich zu schützen, weniger eine Charaktereigenschaft.
„Ich habe starke Zweifel an einer PTBS“
Auffällig war für den 50-jährigen Gutachter, dass viele Schilderungen schnell auseinanderfielen, ohne emotionalen Gehalt waren. Es müsse nicht auf die Goldwaage gelegt werden, jedoch seien die Beschreibungen ihrer Kinder blass und farblos – der Sohn hat ein gutes Herz, spielt gerne Playstation -, die Beschreibung vom Audi jedoch sehr detailreich: E.P. beschrieb ihm, wie das Licht langsam anging, wenn sie die Fernbedienung betätigte. Cordes-Welzel gegenüber sagte sie, sie schaute nie auf die PS-Zahl, sondern kaufte den Audi ohne Probefahrt, da sie einfach in den Wagen verliebt war. „Sie setzte Autos mit Hochzeitskleidern gleich.“
Dr. Wedegärtner erkannte Probleme mit Empathie bei E.P. Sie habe nicht darüber nachgedacht, dass hinter der Kurve andere Menschen sein könnten. So wie P. sich bei der Befragung gab, sei es plausibel, dass sie beim Überholen spontan in die Gemütsverfassung „Jetzt will ich es wissen!“ geraten sei. Bei ihrem Persönlichkeitsbild habe sie die anderen Verkehrsteilnehmer einfach ausgeblendet. Sie habe bei der Befragung verwundert gewirkt, dass ihre PS-Stärke nicht ausreichte, um zu überholen. Bei der Nachfrage von Wedegärtner zu den verstorbenen Kindern habe sie kurz geweint, meinte dann aber auch, dass so etwas passieren könne. „Empathie ist nicht so ihre Stärke, könnte man also sagen“, fasste Richter Grote zusammen.
Die Verteidigung zweifelte das Gutachten an, auch den Test, der die Persönlichkeit der Angeklagten beleuchten sollte. Frage um Frage stellte die Verteidigung den beiden Gutachtern und führte dabei auch immer wieder die 74-jährige Psychotherapeutin aus Barsinghausen ins Felde, zu der E. P. 15 mal nach dem Unfall - auf Anraten ihrer Anwälte - gegegangen sei. Die „abgestumpfte“ Art ihrer Mandantin sei durch den Schock des Unfalls und durch psychischen Selbstschutz zu erklären, ausgelöst durch PTBS. Die Psychologin von E.P. habe vom Einfluss von PTBS auf das Persönlichkeitsbild gesprochen, daher könne die Befragungen nach dem Unfall nichts über den Charakter von P. von vor dem Unfall aussagen. Die beiden Gutachter äußerten ihre Zweifel daran, ob P. wirklich unter PTBS leide. Cordes-Welzel habe mit vielen PTBS-Patienten zu tun. Diese seien bei Flashbacks regelrecht „weggetreten“ und kaum ansprechbar. Jede Erinnerung sei belastend. Auch Wedegärtner habe in seinen Gesprächen keine Symptome bei P. erkannt. „Ja, sie hat ihrer Psychologin von Symptomen berichtet, diese wurden aber auch nicht weiter erklärt und sie haben sich uns nie gezeigt.“ Als die Verteidigung sich zu weiteren Nachfragen meldete, lächelte der Richter nur milde und sagte zur Verteidigung: „Fragen sie ruhig weiter.“
Abschließend zum sechsten Prozesstag brachte die Verteidigung von M.S. noch einen Beweisantrag ein. Sie hätten einen eigenen Gutachter auf das Unfallgutachten angesetzt. Dieser bezweifelte die Aussagen, dass der Cupra genau so schnell wie der Audi gewesen sein kann. Auch das Dashcam-Video sei unbrauchbar als Grundlage für diese Schlussfolgerung, die entsprechende Passage sei schließlich weniger als zwei Sekunden lang und verzerrt. Auch die Vergleiche des Gutachters zwischen den Angeklagten und Michael Schumacher würden verurteilend und nicht objektiv wirken. „Wir haben kein Vertrauen in den Gutachter und kommen zu anderen Ergebnissen.“
Der Prozesstag am 17. März entfällt zur internen Beratung des Gerichts, weiter geht es daher erst am 21. März.